»Ein Trauma ist eine psychische Wunde, die uns auf seelischer Ebene hart macht und
in der Folge unsere Fähigkeit, zu wachsen und uns zu entwickeln, beeinträchtigt«,
erklärt Gabor Maté. Diese psychische Wunde kann durch körperlichen oder emotionalen
Missbrauch entstehen. Aber nicht das Ereignis an sich ist wichtig, meint Dr. Maté,
sondern die Wunde, die du erlitten hast. »Ein Trauma ist vielleicht die am meisten gemiedene,
ignorierte, verharmloste, verleugnete, missverstandene und unbehandelte Ursache für
menschliches Leid,« sagt er. Und fährt fort: »Trauma ist nicht das, was mit dir passiert,
sondern das, was in dir passiert.«
Kinder, insbesondere wenn sie hochsensibel sind, können auf vielfältige Weise verletzt
werden: Zum einen durch schlimme Dinge, die passieren, zum anderen aber auch durch gute
Dinge, die nicht passieren, etwa wenn die emotionalen Bedürfnisse nach Zuwendung, nach
Zugehörigkeit, nach Zärtlichkeit, nach Anerkennung und nach Liebe nicht erfüllt werden.
Die natürliche Reaktion eines Kindes auf diese Formen von Verletzung ist die Anpassung
sowie die Verdrängung und Entfremdung von allen Gefühlszuständen, die mit dem Leiden
verbunden sind. So ignorieren Erwachsene oft ihr Bauchgefühl. Irgendetwas ist in
ihrer Vergangenheit geschehen, dass sie von ihrer Intuition getrennt hat. Wenn das
Umfeld unser Bauchgefühl und unsere Emotionen nicht akzeptieren kann, werden wir
als Kinder automatisch und unbewusst unsere Emotionen und die Verbindung zu uns
selbst unterdrücken, um dazuzugehören. Wir trennen uns von unserem Selbst, damit sich
weiterhin jemand um uns kümmert.
Das ist umso tragischer, weil uns nicht einmal bewusst ist, dass wir diese Entscheidung
getroffen haben. Dieser Prozess läuft automatisch ab. Dann erreichen wir das Erwachsenenalter
und stellen auf einmal fest: »Ich weiß nicht, wer ich bin«. Dr. Maté hat das in seiner
Praxis oft gesehen: »Gerade im mittleren Alter realisieren die Menschen oft, dass sie ein
Leben gelebt haben, das überhaupt nicht ihr eigenes war. Das haben sie getan, weil sie von
sich selbst getrennt wurden. Sinn, Verbindung, Bestätigung und Transzendenz – das sind
menschliche Bedürfnisse«.
Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, es ist unsere Verwundung oder die Art und
Weise, wie wir damit umgehen, die einen Großteil unseres Verhaltens bestimmt, unsere
sozialen Gewohnheiten prägt und unsere Art, wie wir über die Welt denken, beeinflusst.
Letztendlich führt bei einem großen Trauma der Konflikt zwischen Bindung und Authentizität
zu einem gebrochenen, einem gespaltenen Selbst: Es gibt die Teile von uns, die wir für
akzeptabel halten, und es gibt andere, die wir ablehnen. Doch erst dann, wenn wir lernen,
die einst abgelehnten Teile anzunehmen und uns mit ihnen zu verbinden, können wir heilen.
Seelisch und oft auch körperlich. Denn ein Trauma bedeutet Stress. Verunsicherung. Angst.
Mehr noch: Der Versuch, dem Schmerz zu entkommen, erzeugt nur noch mehr Schmerz und
damit Stress.
Letzterer aktiviert ein komplexes Netzwerk von Verbindungen im Körper. Forscher bestätigen,
dass emotionaler Stress untrennbar mit dem physischen Zustand unseres Körpers verbunden ist.
Dr. Maté nennt das die Einheit von Körper und Geist.
Längerer oder chronischer Stress führt zu einer übermäßigen Ausschüttung von Stresshormonen
und erschöpft mit der Zeit den gesamten Organismus. Mit verheerenden Folgen: Unser
Nervensystem leidet und unsere Abwehr wird geschwächt. Doch nur, wenn das Immunsystem
optimal funktioniert, kann es Keime, Viren und Bakterien abfangen und bekämpfen. Zu viel
Stress führt außerdem zu chronischen Entzündungen. Mehr noch, er kann eine sogenannte
Autoimmunreaktion auslösen, bei der das Immunsystem gesunde Zellen angreift.
Und: Stress kann sich sogar auf unsere DNA auswirken. Telomere sind winzige Strukturen,
die die Chromosomen vor dem Ausfransen schützen – so ähnlich wie die kleinen Plastikkügelchen
am Ende unserer Schnürsenkel. Forscher haben herausgefunden, dass Stress und Widrigkeiten
die Telomere erheblich verkürzen, unsere Zellen vorzeitig altern lassen und uns anfälliger
für Erkrankungen machen. Krankheiten haben zwar eine genetische Komponente, aber unser
Umfeld und unsere Erziehung haben einen großen Einfluss auf das, was mit diesen Genen
passiert. »Unsere Erfahrungen bestimmen, wie sich unser genetisches Potenzial ausdrückt«,
schreibt Maté. Er ist überzeugt, dass jede Diagnose, von Depression über ADHS bis hin
zu einer bipolaren Störung, auf einem Trauma beruht.
Wir neigen dazu, uns Krankheiten als etwas vorzustellen, das eines Tages aus heiterem
Himmel auftaucht. Was wäre, wenn wir eine Krankheit stattdessen als einen Prozess betrachten
würden – eine Reise, die bis in die frühesten Tage des Lebens zurückreicht und sich bis in
die Gegenwart erstreckt? Was wäre, wenn jemand, der krank ist, sich inmitten eines Wandels
befindet und dazu aufgerufen wird, ehrlich und mit offenem Herzen auf die Wunden zu schauen,
die er in sich trägt? Für Dr. Maté ist deine Gesundheit Ausdruck deines Lebens und des
Umfeldes, in dem du aufgewachsen bist.
»Deine Gesundheit ist der Ausdruck deines Lebens und des Umfeldes, in dem du aufgewachsen bist.«
Wenn wir psychische Krankheiten wie Depressionen nur als Krankheit behandeln, verpassen wir die
Chance, den Zweck zu verstehen, dem sie einst dienten. Viele der Suchtpatienten, die Dr. Maté
behandelt hat, griffen zuerst zu Drogen oder Alkohol, um ihrem emotionalen Schmerz zu entkommen.
Wenn man die Ursache des Leidens – Trauma, Not und Stress – als die sozialen Bedingungen des
Lebens in einer toxischen Kultur begreift, erscheinen Krankheit und Leid in einem anderen Licht.
In diesem neuen Kontext sind sie eher ein Warnsignal: Wir können uns ansehen, was Krankheit
und psychische Erkrankungen über das Leben und den sozialen Kontext ausdrücken, aus dem sie
entstanden sind. Für Dr. Maté geht es bei der Heilung darum, einen Weg zur Ganzheit zu finden.
Wenn die Voraussetzungen für eine Krankheit mit einer Trennung vom Selbst, von den Emotionen
und von Anderen beginnen, dann ist es nur logisch, dass die Lösung darin besteht, unsere
fragmentierten Teile wieder zu integrieren. Dazu müssen wir unser Leiden und das der Welt
anerkennen und lernen, uns den Wunden zu stellen, die zur Entfremdung geführt haben. Eine
wirkungsvolle Strategie, die du in deinem eigenen Leben anwenden kannst, ist die Übung
»Mitfühlendes Kennenlernen« (siehe unten). Mitgefühl ist eine Haltung, die akzeptiert,
was ist, und die Person, die du bist. Mit anderen Worten: Es gibt kein »sollte«. Ziel
dieser Heilungsarbeit ist, dass du lernst, dein authentisches, wahres Selbst wahrzunehmen.
Wenn du das geschafft hast, kannst du dich von den automatischen Reaktionen und Anpassungen
an Stress, Widrigkeiten und Traumata befreien, die dich von dir selbst entfremden. In Liebe
und Achtsamkeit gegenüber deinen Bedürfnissen. Wie Dr. Maté erklärt: »Ich würde meinem
achtzehnjährigen Ich sagen: Entspanne dich, die Welt ist gütig, sie wird für dich da sein,
wenn du einfach selbst für dich da bist und dich selbst kennenlernst. Schenke deinem Inneren –
nicht deinen egoistischen Bedürfnissen – genau so viel Aufmerksamkeit wie der Außenwelt.
Vernachlässige nicht das eine zugunsten des anderen.«
Übung: Mitfühlendes Kennenlernen deines Selbst
Diese Übung machst du am besten, wenn du ungestört bist. Schreibe deine Antworten auf, weil das
deinen Geist aktiver und tiefgreifender beschäftigt, als wenn du deine Gedanken oder Einsichten
nur beobachtest.
1. Wozu sagst du in den wichtigen Bereichen deines Lebens nicht Nein? Also hast du heute oder
in dieser Woche ein »Nein« in dir gespürt, aber stattdessen »Ja« gesagt oder geschwiegen.
2. Wie wirkt sich deine Unfähigkeit, Nein zu sagen, auf dein Leben aus? Du wirst feststellen,
dass diese Auswirkungen im körperlichen, im emotionalen und im zwischenmenschlichen Bereich auftreten.
3. Welche körperlichen Signale hast du übersehen? Welche ignoriert, die Warnzeichen sein könnten,
wenn du bewusst darauf achten würdest? Hier beginnen wir mit den körperlichen Auswirkungen und
vertrauen darauf, dass sie uns zeigen, wo es an Authentizität mangelt. Dazu musst du eine
Bestandsaufnahme deines Körpers machen – einen regelmäßigen und bewussten Scan für den Tag.
4. Welche Geschichte steckt hinter deiner Unfähigkeit, Nein zu sagen? Damit ist die Erklärung
gemeint, die diese Gewohnheiten normal und sogar notwendig erscheinen lässt. In Wahrheit
entspringen sie aus einschränkenden Glaubenssätzen. Meistens sind wir uns darüber aber nicht
bewusst. Wir handeln, als ob sie wahr wären.
5. Wo hast du diese Geschichten gelernt? Beim Rückblick auf deine Vergangenheit geht es nicht
darum, dich mit ihr auseinanderzusetzen, sondern sie loszulassen. Das erfordert einen offenen
Blick auf unsere Kindheitserfahrungen – nicht so, wie wir sie gerne hätten, sondern wie sie waren.
6. Wo hast du dein »Ja«, das du sagen wolltest, ignoriert? Wenn das Unterdrücken eines »Neins«
uns krank machen kann, kann es auch das Zurückhalten eines echten »Jas« sein. Was wolltest du tun
oder sagen, das du wegen einer vermeintlichen Pflicht oder aus Angst aufgegeben hast? Welchen
Wunsch hast du ignoriert? Welche Freuden hast du dir versagt, weil du glaubst, dass du sie nicht
verdienst?
Textquelle: www.wrage.de vom 10.07.2023